Vom Sitz des Shen

Shen=SpiritIn der chinesischen Medizin hört man oft den Begriff „Shen“. Mit Shen ist die individuelle, psychisch-mentale und körperliche Präsenz des Menschen gemeint. Wir alle kennen Menschen mit beeindruckender Ausstrahlung oder andere, die man als „Mauerblümchen“ kaum wahrnimmt. Ein Mensch mit einem gesunden Shen hat einen klaren Verstand, einen klaren Blick, eine aufrechte innere und äußere Haltung sowie eine kräftige Stimme, Körper und Psyche sind gesund, stabil und kräftig.

Störungen im Shen können ganz unterschiedliche Symptome zeige, hier nur ein paar: Bulimie (das verletzte Herz), Depression, Sucht, geistige Verwirrung, Stottern…

Das Herz gilt als Zentrum des Shen und umfasst das gesamte Bewusstsein: das Tagbewusstsein; also alles, was man wahrnimmt – das Bewusste und das Unbewusste. Das heißt: Aktivität, Lebendigkeit, Zielstrebigkeit. Im Unbewussten finden wir etwa Intuition und Inspiration. Der Verstand mit seiner intellektuellen Funktion ist der Yang-Aspekt von Shen, also der aktive nach außen gerichtete, während der Yin-Bereich die Aufnahmebereitschaft des Verstandes ist – dieser Bereich lenkt uns so oft unbewusst. Der Yin-Aspekt ist das tiefe innere Wissen, das aus einer Quelle jenseits von Verstand und Logik schöpft.
Neben dem Tagbewusstsein gibt es das Nachtbewußtsein, das man im Schlaf nur wenig, bestenfalls durch Träume wahrnimmt. Shen wird auch als Hüter der Träume bezeichnet; er zieht sich nachts zurück und wird vom Blut des Herzens genährt. Deshalb sind ein harmonischer und rhythmischer Wechsel von Schlaf- und Wachphasen so wichtig für unsere physische und psychische Gesundheit. Unruhige Träume, Albträume oder traumgestörter Schlaf weisen auf eine gestörte Shen-Funktion hin und sollten behandelt werden.

Durch eine Schädigung des Shen können auch die Funktionskreise von Milz, Leber, Lunge oder Niere geschädigt werden, denn Shen ist nicht allein im Herzen zu finden. Jedes der fünf Speicherorgane besitzt einen Aspekt des Shen.
Die Milz ist für die Transformation der Nahrung im Verdauungsprozess und für das Denken (Yi) mit verantwortlich. Damit ist die materielle Aufnahme (Nahrung) und die immaterielle (Informationen, Gedanken, Eindrücke…) gleichermaßen gemeint. Eine Störung kann zu schwachem Gedächtnis oder Verwirrtheit führen.
Die Leber beinhaltet die Wanderseele Hun. Nach außen nimmt man über die Augen Kontakt zu den Dingen der Welt auf, aber wir können auch nach innen sehen, ins Unbewusste. Beide Blickrichtungen sind wichtig und stellen eine Verbindung zwischen der innen und der Außenwelt her. Eine Shen-Störung kann den Blick trüben oder eine wurzellose Unruhe entstehen lassen und so zu Störungen der körperlichen und psychomentalen Koordination führen.
Die Lunge mit der Körperseele Po repräsentiert vor allem die psychischen, emotionalen und instinktiven Kräfte im Menschen, die eng mit dem Körper verbunden sind. Es ist das instinktive und eher reflektorische Handeln. Gefahr ruft das Gefühl der Angst hervor. Angst induziert Flucht, um in Sicherheit zu gelangen. Wenn Po durch eine Shen-Störung handlungsunfähig ist, wird auch das instinktiv richtige Handeln eingeschränkt sein.
Die Niere gibt uns die Willenskraft (zhi), die Beharrlichkeit, aus einem flüchtigen Gedanken etwas entstehen zu lassen. Die Willenskraft erstreckt sich auf alle Ebenen, auf die körperliche, die mentale, die psychische und die spirituelle. Dabei geht es um das aktive Wollen und Umsetzen eines Zieles. Dazu gehört auch der Aspekt, sich im Leben zurecht zu finden und das Leben so zu gestalten, wie man es sich vorstellt. In der Psychologie wird diese Kraft als Ego bezeichnet. In der chinesischen Medizin der Yang-Wille.
Der Yin-Wille hingegen ist mit dem inneren Lauschen verbunden: Was braucht mein Körper gerade, Schlaf, Nahrung, Ruhe, Erholung, Entspannung, Entschleunigung… Wir neigen dazu, den Yin-Willen zu beugen und dem Yang-Willen den Vortritt zu lassen; Arbeit, Erfolg, Ansehen und Geld höher zu bewerten als Familie und das, was wir in der Tiefe immer wieder wahrnehmen – ich bin völlig KO, ich bin urlaubsreif… Mit etwas Glück zwingt uns ein Beinbruch zur Ruhe, mit weniger Glück ein Burn-Out oder ein Herzinfarkt.